FONDS professionell Österreich, Ausgabe 2/2020

Pensionisten geben. Eine Million über Acht- zigjährige wird das Pflegesystem zusätzlich strapazieren. Dieses 15-jährige Jahrhundert- ereignis wird in Turbulenzen bis über 2070 hinaus nachbeben. Politik und Allgemein- bewusstsein sind dafür längst nicht fit. Wir werden die Folgen spüren. Jeder anders, aber alle schmerzlich. Für schmerzfreie, sanfte An- passungen, etwa eine sofortige Erhöhung des Referenzalters um bloß ein, zwei Monate als Ausgleich für Lebenszeitgewinne von 71 bis 101 Tagen jährlich, wird es 2034 viel zu spät sein. Es könnte uns brutale Einschnitte oder schwere Krisen ersparen. Trotzdem liest man derzeit im Regie- rungsprogramm noch, dass es keine grundlegende Neuausrichtung des Pen- sionssystems brauche. Es sollen nur Maßnahmen gesetzt werden, um das effektive Pensionsantrittsalter deutlich zu erhöhen. Wird das reichen? Natürlich kann das nicht reichen. Aber das galt schon vor der Krise. Danach umso mehr. Bloßes Anheben des effektiven Pensionsalters reicht nicht, solange es hinter den tatsächli- chen Langlebigkeitszuwächsen zurückbleibt. Das Regierungsprogramm ist durch die Krise reine Makulatur geworden, vom SARS-CoV- 2-Virus innerhalb weniger Tage dahingerafft, gleichsam geschichtlich geschreddert. Es wäre sinnvoll und ehrlich, wenngleich schwierig, eine Neufassung zu vereinbaren. Und mit Neustart und Reset aus der Coronakrise auch Umwelt-, Klima-, Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Pflege- und Pensionssysteme allmählich auf Nachhaltigkeit umzustellen. Vorschläge für eine Reform gibt es ja reichlich. Viele Experten fordern etwa seit Jahren eine Pensionsautomatik. Warum lehnt ein Großteil der öster- reichischen Parlamentsparteien diesen Vorschlag ab? Es gibt keine Fachperson von Rang, die nicht irgendeine Form der Pensionsautomatik be- fürwortet, keine einzige. Warum die Parla- mentsparteien mit Ausnahme der Neos sich inzwischen alle – und mehrfach im Gegensatz zu früheren Festlegungen – auf populistische Verdummung eingeschworen haben und ar- gumentieren, dass die Leute das nicht wollen, müssen Sie diese selbst fragen. Es ist so, als ob sie sich in einer gefährlichen Pandemie mit komfortablem Nichtstun bequemen, weil die Menschen Abstandsgebote und Zusammen- rottungs- und Kussverbote halt einfach nicht mögen. Zumindest wurde nun das freiwillige Pensionssplitting ermöglicht, und ein automatisches Splitting ist in Planung. Was halten Sie davon? Ich bin seit Jahrzehnten auch hier für einen Automatismus eingetreten, aber ohne Zwang und Zwangsbeglückung, wie dies einer libe- ralen Demokratie wohl ansteht. Es wird die Massenaltersarmut der Frauen infolge vor- herrschender Teilzeitarbeit ein bisschen ab- schwächen, wenngleich nicht verhindern kön- nen. ÖVP und Grüne übernahmen endlich, was Fachleute und Neos seit Langem gefor- dert hatten. Künftig wird die Default-Option umgedreht, das Splitting wird regulär statt antragspflichtig, während ein Opting-out für Paare hartgesottener Machos und ahnungs- loser Bräute weiterhin extra begehrt werden kann. Das könnte die Inanspruchnahme von unter einem auf 99 Prozent umkehren. Da es alle Familieneinkommen zulasten der Pen- sionsversicherung erhöht und mehr kostet, geht es um sinnvolle Humaninvestitionen. Ergänzend zur staatlichen Pensions- vorsorge will die Regierung auch ent- sprechende Rahmenbedingungen für die private Pensionsvorsorge schaffen. Was wäre hier notwendig? Zusätzlich zur Sanierung der ersten Säule ist betriebliche Alterssicherung, wie ich nicht müde werde zu betonen, das Gebot der Stun- de. Während wir in Österreich derzeit nur vier Prozent und im Vollausbau einmal eine Min- derheit bis zu 23 Prozent an Personen mit Betriebspensionen haben werden, sind dies in der EU die Mehrheit der Bürger, in Deutsch- land 65 Prozent und in entwickelten Wohl- fahrtsstaaten von Holland bis Schweden über 90 Prozent der Bevölkerung. Wir sollten, wie bei der Abfertigung neu gegenüber Abferti- gung alt, dieses Sozialrecht demokratisieren und aus einem privilegierten Minderheiten- programm ein Bürgerrecht aller machen. Im Zuge der Krise wird bereits darüber diskutiert, wie der Staat die Ausgaben wieder hereinbekommen kann. Gern werden dabei Steuern für Reiche ins Spiel gebracht. Aktuell fließt jeder vierte Prof. Bernd Marin: „Dieses 15-jährige Jahrhundertereignis wird in Turbulenzen bis über 2070 hinaus nachbeben. Politik und Allgemeinbewusstsein sind dafür längst nicht fit.“ » Wir werden die Folgen spüren. Jeder anders, aber alle schmerzlich. « Prof. Bernd Marin, Europäisches Büro für Politikberatung und Sozialforschung Foto: © Günter Menzl fonds & versicherung I prof. bernd marin 156 www.fondsprofessionell.at | 2/2020

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