Fast fünf Jahrzehnte lang hat Heiko Thieme seine Landsleute ermuntert, in Aktien zu investieren – mit mäßigem Erfolg. "Früher gab es den Witz, dass es in Deutschland einfacher ist, Steine zu zertrümmern als Aktien zu verkaufen", sagt der 82-Jährige, der als Börsenmakler und Fondsmanager bei der Deutschen Bank und der US-Investmentbank White, Weld & Co. tätig war.

Die Deutschen gelten als disziplinierte Sparer, doch die Angst vor Risiko, geprägt von Hyperinflation und Krisenerfahrungen, hielt viele vom Aktienmarkt fern. "Ich habe alles gehört", so Thieme. "Die Börse ist ein Casino, das ist nur etwas für Reiche, Trading ist Wegelagerei."

Heute spürt er jedoch einen Wandel. Thieme selbst hat 190.000 Follower auf Instagram und sagt: "Wir kommen bei der jüngeren Generation gut an."

Dax und Finfluencer sorgen für Aktionärs-Boom
Der Dax hat 2025 bereits über 20 Prozent zugelegt. Seit 2022 sind mehr als drei Millionen Deutsche erstmals Aktionäre geworden – der größte Anstieg in Europa nach Großbritannien. Die Zahl der Aktionäre stieg binnen zehn Jahren um 44 Prozent, ETFs wuchsen seit 2017 um 200 Prozent auf 343 Milliarden Euro.

Soziale Medien spielen dabei eine Schlüsselrolle. Finfluencer wie "Madame Moneypenny" inspirieren junge Menschen, in ETFs und Aktien zu investieren. Ursula Huber, 37, aus München, hat begonnen, in ETFs zu sparen: "Man erzielt mit einem Bankkonto keine vernünftigen Renditen." Für ihr Kind, das Anfang 2026 auf die Welt kommt, will sie statt ein Sparkonto einzurichten in einen ETF investieren.

"Schlüssel zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft"
Für Ökonomen ist die neue Aktienkultur überfällig. "Die Erschließung des Privatanlegermarktes ist einer der Schlüssel zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft", sagt Arun Sai von Pictet Asset Management. Aktienanlagen sichern nicht nur Altersvorsorge, sondern schaffen Kapital für Start-ups und Unternehmen.

Deutschland droht eine Rentenlücke: Bis 2050 wird auf zwei Arbeitnehmer ein Rentner kommen. Ohne Reformen sei die Finanzierung nicht gesichert. Trade-Republic-Mitgründer Christian Hecker sieht Parallelen zu den USA und Schweden, wo steuerbegünstigte Anlagekonten einen Aktienboom ausgelöst haben.

DWS: "Ladies, ein Ehemann ist keine Altersvorsorge"
Auch Broker und Vermögensverwalter treiben die Entwicklung: Trade Republic wirbt großflächig in Berlin, Comdirect setzt auf BVB-Spieler und Rapper Reezy, die DWS hat einen Instagram-Account gestartet mit Botschaften wie: "Ladies, ein Ehemann ist keine Altersvorsorge."

Doch die Zurückhaltung ist tief verwurzelt. Deutsche Haushalte halten 37 Prozent ihres Vermögens auf Bankkonten, nur 20 Prozent in Aktien (USA: 42%). Historische Traumata von Hyperinflation bis Wirecard-Skandal haben das Vertrauen erschüttert.

Sichere Rente? "Wissen, dass sie lügen"
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) brachte Anlagekonten für Kinder ins Gespräch – mit staatlichen Einzahlungen. Fondsriesen wie Blackrock, Amundi und Vanguard fordern umfassende Reformen. Doch die SPD blockiert entsprechende Pläne.

Anleger wie Michael Domke aus München reagieren skeptisch: "Alle Politiker erzählen uns, unsere Rente sei sicher. Aber diejenigen von uns, die in ETFs investieren, wissen, dass sie lügen."

Internationaler Vergleich bietet Chancen
Der deutsche Aktienmarkt ist im Vergleich günstig bewertet. Er entspricht 66 Prozent des BIP – deutlich weniger als in den USA, wo er mehr als doppelt so groß ist. Würden deutsche Privatanleger ähnlich stark investieren wie Franzosen, könnten 1,1 Billionen Euro zusätzlich ins System fließen.

Noch dominiert das Interesse an US-Techwerten, doch deutsche Titel wie Rheinmetall gewinnen an Zugkraft. Fondsströme in Produkte ohne US-Anteil steigen deutlich. "Solange wir uns nicht in einer Blase befinden, bin ich optimistisch", sagt Joachim Klement von der britischen Investmentbank Panmure Liberum. (mb/Bloomberg)