Wirtschaftskammerwahl: Falsche Zahlen und Anfechtung
Fragwürdige Vorgänge beschäftigen die Fraktionen lange nach der Wirtschaftskammerwahl im März. Eine Zahlendifferenz zwischen 2020 und 2025 kann keiner erklären.
Alle fünf Jahre sind Wirtschaftskammerwahlen. Diesen März war es wieder so weit. Noch immer sind die Fraktionen im Stress mit den Formalitäten rund um die Entsendung von Mandaten in die Gremien. Wobei es nicht schadet, immer wieder mal nachzurechnen. Nach Recherchen der Redaktion kam es bei der Darstellung von Stimmenverlusten zwischen 2020 und 2025 zu einem nicht erklärbaren Zahlensprung. Die Kammer wimmelt ab, während der Sozialdemokratische Wirtschaftsverband (SWV) auf der Suche nach Prozentpunkten ist. Möglicherweise bei der Konkurrenz.
Laut offizieller Wahlinformation aus dem Jahr 2020 hatte der Wirtschaftsbund (ÖWB) damals in der Urwahl 69,6 Prozent der Stimmen errungen. Nach neuer Darstellung von 2025 sollen es einst jedoch nur 69,1 Prozent gewesen sein (oder 69,2, da gehen die offiziellen Angaben auseinander). Jedenfalls ist ein um 0,4/0,5 Prozentpunkte geringeres 2020er-Ergebnis für den ÖWB aus heutiger Sicht optisch sehr vorteilhaft. Denn 2025 kommt man nur noch auf 61,3 Prozent. Dank der abgespeckten 2020er-Variante musste man heuer nicht ein Minus von 8,3 Prozentpunkten verkünden, sondern nur einen Verlust im visuell positiveren "Siebener-Prozent-Bereich".
Umgekehrt wurde dem sozialdemokratischen Wirtschaftsverband heuer anscheinend der prozentuale Verlust verdoppelt: 2020 bekam der SWV in der Urwahl nach damaligen Angaben 10,3 Prozent der Stimmen, nach heutiger Darstellung sollen es damals aber 10,8 Prozent gewesen sein. Optischer Nachteil für den SWV, der 2025 (sofern diese Zahlen stimmen) 9,7 Prozent der Stimmen errang: Gerechnet mit 2020er-Angaben säße er heute nur auf einem sehr kleinen Verlust von minus 0,6 Prozentpunkten und nicht wie offiziell von der Kammer kommuniziert von minus 1,1 Prozentpunkten.
Keine Erklärung
Ein Sprecher der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) meinte, die Ergebnisse seien ohnehin nur als vorläufig zu verstehen. Erklären kann er die Differenz trotz mehrfacher Bitte um Antwort nicht. Wortkarg ist die Kammer bei den Wahlergebnissen nicht nur gegenüber der Redaktion. Beim SWV ist man ebenfalls ratlos. Man habe das Problem bemerkt, aber bisher keine Antwort erhalten. Aus den allseits bekannten nachträglichen Zurechnungen (Fraktionen tauschen Stimmen, die sie in einem Bereich nicht brauchen, mit anderen Gruppen) oder aus der viel kritisierten Gemeinschaftslistenthematik stamme die Abweichung wohl nicht, sagt eine SWV-Expertin auf Nachfrage. Es dürfte sich um einen Fehler handeln. Wie er zustande kam und welche Zahlen nun stimmen, ist unklar.
Es ist nicht der einzige Lapsus, der der WKO rund um die Auszählung der Stimmen passiert ist. Bei genauem Nachrechnen kann man immer wieder Mandate retten, erfährt man beim SWV. So auch diesmal. Dabei sei der WKO in der Mandats-Sache nicht einmal eine Absicht zu unterstellen. Die Berechnung der von den verschiedenen Listen erreichten Mandate sei schlicht derart kompliziert, dass nur ausgewiesene Zahlenexperten eine Chance hätten, durchzusteigen.
Nebensächlichkeit
Dass die Wahlergebnisse nur so "über den Daumen" stimmen und die Kammer als Pflichtvertretung darin nicht einmal einen Erklärungsbedarf erkennt, ist ein schlechtes Signal an die Wahlberechtigten. Unter ihnen herrscht Resignation. Heuer lag die Wahlbeteiligung auf einem historischen Tiefpunkt von 26,5 Prozent (minus 7,2 Prozentpunkte). Für die Wähler ist klar, dass ihre Stimme nur bedingt zählt und alles von Abmachungen im Hintergrund abhängt; ein Kreuzerl für die Roten könnte am Ende wegen des Schacherns mit den Zurechnungen genauso gut bei den Blauen landen.
Bei jeder anderen demokratischen Wahl wäre ein unklarer Verbleib von 0,5 Prozentpunkten ein Aufreger. Aus Sicht des SWV sind das jedoch eher Peanuts. Ihn plagen Stimmen-Deals in ganz anderen Dimensionen. Eigentlich könnten die Roten ein deutlich höheres Wahlergebnis verlauten, heißt es mit Blick auf die Zurechnungen und vor allem auf die zunehmend auftretenden Gemeinschaftslisten.
Gemeinschaftslisten
Dieses Jahr traten besonders viele der 76 in Wien wählbaren Fachorganisationen in einer ÖWB-SWV-Sammelliste an (so wie teils in anderen Bundesländern oder mit anderen Fraktionen). Die Stimmen fielen komplett dem ÖWB zu, der mit den Gemeinschaftslisten gegen seinen zunehmenden Zustimmungsverlust kämpft. Stimmen gegen Mandate lautet da oft der Deal im Hintergrund, wie ein Wahlwerber sagt.
Am schwersten haben es die Schwarzen in der sozialdemokratischen Hochburg Wien. Mit Ach und Krach schaffte es der ÖWB in der Bundeshauptstadt dank der Einheitslisten noch über die 50-Prozent-Schwelle: Exakt 50,2 Prozent, trotz SWV-Stimmen, bedeuteten ein Minus von fast vier Prozentpunkten. Den SWV schmerzt die Stimmenwanderung sämtlicher Einheitslisten zum ÖWB sehr: In Wien kamen die Roten nur mehr auf 16,5 Prozent. Das sind minus 3,5 Prozentpunkte. Real, also ohne Gemeinschaftslisten, vermutet man beim SWV in Wien, aber auch in Gesamtösterreich, eher einen Zugewinn. Auf jeden Fall aber ein substanziell höheres Wahlergebnis.
Nur ÖWB will keine Wahlrechtsreform
Dem Bundes-SWV sind die Sammellisten ein Dorn im Auge. Verbieten kann man sie den Landesorganisationen aber nicht. Außerdem winken angesichts der Abtauschgeschäfte auch Vorteile. Solange das Kammerwahlsystem so ist, wie es ist, muss man nach diesen Spielregeln spielen, um mitmischen zu können. Dass das Block-Gehabe die Parteienvielfalt reduziert und dass insgesamt eine Wahlrechtsreform her muss, sehen alle Fraktionen so, außer dem ÖWB.
Tatsächlich sind die Chancen auf eine Wahlrechtsreform momentan so hoch wie nie zuvor. "Mit der SPÖ und den Neos sind zwei Parteien in der Bundesregierung, die daran interessiert sind", heißt es beim SWV. Dessen Forderungenkatalog ist angesichts der Probleme lang: Unter anderem stehen darauf Anliegen wie eine automatisierte Zusendung des Wahlkartenantrags an alle Mitglieder und eine einheitliche Wahlinformation durch die WKO oder die Einzelkammern. Allein diese beiden unscheinbaren Komponenten würden einen Teil der suspekten Vorgänge eindämmen. Das zeigt eine Wahlanfechtung wegen hinterfragbarer Vorfälle.
Anfechtung der Wahl in Niederösterreich
Rudolf Mittendorfer, Initiator des Unabhängigen Wirtschaftsforum (UWF), beeinsprucht die Wahl in Niederösterreich. Er sei wiederholt von Unternehmen angesprochen worden, die telefonische Wahlaufrufe von angestellten regionalen Kammermitarbeitern erhalten hatten. Nach welcher Auswahl die Betriebe angerufen wurden, konnte die Kammer gegenüber Mittendorfer nicht schlüssig darlegen. Er vermutet, dass die ÖWB-dominierte Wirtschaftskammmer eher nicht ihre Mitarbeiter beauftragt hat, im Telefonbuch nach den Nummern bekannter Anhänger von Unos, Grünen oder Roten zu kramen, geschweige denn von seiner Fraktion. Das lege auch der ihm bekannte Ausschnitt der Angerufenen nahe.
Bei der WKO findet man auf Nachfrage nichts Verwerfliches an Wahlmotivation. Angesprochen auf das demokratisch nicht zu rechtfertigende Kontaktieren einer selektiven politischen Zielgruppe, bezahlt mit den Pflichtbeiträgen aller Kammermitglieder, antwortet der Sprecher nicht mehr.
"Keine allgemeinen, freien, fairen Wahlen"
Dass wahlwerbende Fraktionen selbst ihre Unterstützer motivieren, sei Basis eines jeden demokratischen Prozesses, so Mittendorfer. Dass hingegen die Kammer mit dem Geld aller Mitglieder Wahlkampf nur innerhalb einer gewissen politischen Gruppe macht, habe nichts mit einer allgemeinen und gleichen oder freien und fairen Wahl zu tun. Wäre es der Kammer tatsächlich ein Anliegen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, dann müsste sie Werbemaßnahmen setzen, die an alle Wahlberechtigten gerichtet sind, so Mittendorfer.
Ebenfalls fragwürdig findet er Berichte, wonach mitunter wahlwerbende Gruppen selbst Wahlkarten einsammeln. Nach einer der Redaktion vorliegenden Mail mahnte dieses Jahr sogar die Wiener Kammer, dass eine Abholung nur legitimierten Mitarbeitern vorbehalten sei.
Reform
Wenn die Wirtschaftskammer eine Vertretung für alle Unternehmen sein soll, seien demokratischere Prinzipien unumgänglich, heißt es auch beim SWV. Mehr Transparenz müsse es jedenfalls bei den Mandaten geben. Wie viele Mandate ein Fachbereich bekommt, wird nach Parametern wie wirtschaftlicher Bedeutung und Anzahl der Unternehmen berechnet. Wie genau, das ist aber selbst für Insider nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig ist harmonisiert, wie viele Stimmen man für ein Mandat braucht; 30 oder 100, das kann je Bundesland völlig anders sein. Sinnvoll fände man beim SWV außerdem eine Ausweitung des Direktwahlmodus. Momentan können die Wirtschaftstreibenden nur ihre Fachvertreter in den Ländern direkt wählen. Diese sind für die Durchsetzung spezifischer beruflicher Interessen zuständig. Abgetrennt davon sollte nach Sicht des SWV die Zusammensetzung der darüberstehenden Landes- beziehungsweise Bundes-Wirtschaftskammer direkt gewählt werden. Denn diese kümmern sich wiederum um komplett andere, eher übergeordnete Themen, etwa die soziale Absicherung von Unternehmern. (eml)