Robeco-Experte: Das ist das große Rätsel der Finanzmärkte
Bei dem niederländischen Asset Manager steuert Pim van Vliet Portfolios anhand akademischer Analysen und forscht selbst dazu. Im Interview kritisiert er eine weit verbreitete Praxisferne in der Finanzwissenschaft und verrät, welches Anlagemodell sich auch im Aktien- und Rentencrash bewährt hat.
Der Kollaps der Aktien- wie der Rentenmärkte riss viele Depots tief in die roten Zahlen. Zudem nagt die Inflation am Vermögen. Pim van Vliet von der Rotterdamer Fondsgesellschaft Robeco hat mit seinen Kollegen Finanzmarktkennzahlen bis zurück ins Jahr 1875 durchforstet um einen Investmentstil zu finden, der auch in widrigen Phasen funktioniert. Van Vliet ist überzeugt, bei seiner Suche fündig geworden zu sein.
Herr van Vliet, Anleger suchen händeringend nach sicheren Häfen. Die Aktienkurse fielen, Rentennotierungen ebenso. Welcher Ausweg bleibt, um Vermögen zu erhalten?
Pim van Vliet: Einen Blick wert sind die Risikoprämien, die Faktoren wie Value, Momentum, Low-Risk und Quality entspringen. Denn Faktoren funktionieren – warum genau: das gilt als das große Rätsel der Finanzmärkte. Ein Erklärungsversuch entspringt dem Verhalten der Marktteilnehmer. Sie agieren nicht immer strikt rational anhand von Kennzahlen, sondern lassen sich von anderen Zielen wie überzeugend wirkenden Investmentgeschichten oder Risikoabwägungen für ihre Karriere lenken. Unser Research hat im Laufe der Zeit auch gezeigt, dass Faktoren funktionieren.
Das gilt auch in einem Umfeld mit so hoher Inflation wie jetzt?
Van Vliet: Meine Kollegen und ich haben die Entwicklung sowohl von verschiedenen Anlageklassen als auch von den vier Faktoren, die ich eben nannte, in einer Studie untersucht. Dabei durchleuchteten wir die Entwicklung bis zurück ins Jahr 1875 gesondert nach Phasen mit Deflation, niedriger, leicht erhöhter sowie hoher Inflation. Gerade in Zeiten mit hohen Teuerungsraten hinken Aktien und Anleihen hinterher. Vor allem aber lieferten sie nach Abzug der Inflation negative Ergebnisse ab. Bei Aktien- und Anleiheninvestments anhand von Faktoren sieht es deutlich besser aus.
Wie viel besser sieht es denn genau aus?
Van Vliet: Der Faktor Low-Risk etwa wird in der Wissenschaft häufig unterschätzt. Er lieferte aber im Schnitt bei Deflationen und niedriger Inflation mehr als sieben Prozent Rendite per annum bei Aktien ab. Bei leicht erhöhter und hoher Inflation sind es immerhin noch 5,3 und 6,2 Prozent – jeweils nach Abzug der Teuerung wohlgemerkt. Momentum wiederum lieferte in diesen Fällen 7,4 und 7,7 Prozent Rendite per annum, bei niedriger Inflation und Deflation noch jeweils um die sechs Prozent. Eine Mischung der vier Faktoren bei Aktien brachte Extrarenditen von 4,5 bis fast sechs Prozent. Auch bei Anleihen zeigten sich gute Ergebnisse für die Faktoren, die sie berücksichtigen.
Derzeit droht, dass eine Inflation auch auf eine Rezession trifft. Gelten Ihre Ergebnisse auch für diesen Fall?
Van Vliet: Wir legten ein besonderes Augenmerk auf solche Phasen der Stagflation. Aktien schnitten dabei real mit einem Minus von mehr als 16 Prozent besonders schwach ab, Anleihen lagen mehr als vier Prozent im Minus. Ein Multi-Faktor-Aktien-Portfolio hingegen erreichte mehr als fünf Prozent Plus, ein entsprechendes Renten-Portfolio fast fünf Prozent.
Wie sich weitere Anlageklassen und Investmentstile in der Baisse schlagen, lesen Sie im Heft 4/2022 von FONDS professionell. Angemeldete Nutzer finden den Artikel auch hier im E-Magazin.
Ihre Studie stützt sich jedoch auf den Blick in die Vergangenheit. Die aktuelle Lage kann zu anderen Ergebnissen führen.
Van Vliet: Bei der praktischen Umsetzung unserer Faktor-Strategien in Investmentportfolios stützen wir uns neben den rückwärts gerichteten Kennzahlen auch auf vorausblickende Zahlen wie Renditeaufschläge der Anleihen oder die Kurse von Kreditausfallversicherungen. Zusammenfassend zeigen die Daten: Faktor-basierte Strategien liefern meistens ein Alpha, dabei sind sie recht simpel. Lediglich in Zeiten, in denen die Märkte in Übertreibungen schwelgen, hinken sie hinterher. Wir bringen zudem die Erfahrung aus der Investmentpraxis mit, die vielen theoretischen Ansätzen in der Wissenschaft fehlt.
Wie meinen Sie das?
Van Vliet: Ich möchte ein Beispiel nennen: Die Fixierung der Wissenschaft auf Monatsdaten kann trügerisch sein. So ist das Kapitalgutpreismodell, englisch Capital Asset Pricing Model, zwar weit verbreitet, es liefert aber mitunter völlig verzerrte Ergebnisse. Wenn etwa Aktienkurse in einem Monat um 50 Prozent fallen und dann wieder um 50 Prozent klettern, steht nach dem Modell eine Null für den Monat. Dabei ist jedem klar, dass ein Gewinn von 50 Prozent keinen Verlust von 50 Prozent aufholt. Dies führt zu immensen Unschärfen in manchen wissenschaftlichen Studien. Daneben besteht ein grundlegendes Problem bei wissenschaftlichen Publikationen.
Welches wäre das?
Van Vliet: Die Wissenschaft funktioniert so: Beachtung finden diejenigen, die viel publizieren. Die wissenschaftlichen Fachjournale wiederum veröffentlichen überwiegend nur die Studien, die positive Ergebnisse liefern. Das führt dazu, dass beispielsweise nur die Studienergebnisse veröffentlicht werden, die zeigen, dass ein bestimmter Faktor Bestand hat. Die ganzen Testserien, die zeigen, dass er keinen Bestand hat, werden kaum veröffentlicht. Damit bleibt das Bild unvollständig. Daher verlassen wir uns auf unsere langjährige und etablierte, eigene Forschung.
Vielen Dank für das Gespräch. (ert)