Die Staaten in Europa müssen nach Ansicht von Wifo-Chef Gabriel Felbermayr mehr Bewusstsein über die langfristigen Treiber und Konsequenzen der Inflation entwickeln und darauf reagieren. Dazu zählt unter anderem die durch Energie- und Rohstoffpreise importierte Teuerung. Anders als oft angenommen, seien die Produzenten in Europa nicht erst seit den Erschütterungen durch den Ukraine-Krieg mit nachteilig hohen Energiekosten konfrontiert. "Die Energiepreise waren in den USA schon seit Langem günstiger", so Felbermayr beim FONDS professionell KONGRESS in Wien. Russisches Gas sei nie wirklich billig gewesen. Nicht umsonst hätten energieintensive Unternehmen – etwa in der österreichischen Stahlerzeugung – Teile ihrer Produktion bereits vor Jahren in die USA verlegt. 

"Wir müssen uns mit Wohlstandsverschiebungen in Richtung USA auseinandersetzen, die als Nettoexporteure vom Rohstoffboom profitieren. Die europäische Industrie konnte zwar ihre Exportpreise stark steigern, aber weniger stark als die Preise, die wir für Importe zahlen. Das bedeutet einen Verlust von Wohlstand", so Felbermayr. Der größte Teil des Preisschocks – etwa bei Gas – habe schon lange vor dem Ukraine-Krieg stattgefunden, nämlich ab dem Frühjahr 2020, als nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie die Rohstoffförderer ihren Output drosselten, während es zu einer unerwartet rapiden Erholung der Wirtschaft kam.

Von Problemen in Deutschland lernen
Die Energiepreise sind laut Felbermayr nur eine Problemzone für die europäische Industrie. Bei genauerem Blick würden die Unternehmen am Kontinent schon länger eine ungünstige Mischung aus Lieferkettenverschiebungen, Demografie und einer politisch motivierten Neuausrichtung des Welthandels merken. Das zeige ein Blick auf die große Exportnation Deutschland, deren Industriebetriebe sich de facto bereits seit 2017 in einer Rezession befinden würden, wie Felbermayr sagt.

Die Gründe: In Deutschland habe zum einen der demografische Wandel früher eingesetzt. "Wer in deutsche Industriebetriebe investiert, muss sich überlegen, wer überhaupt die Arbeit erledigen soll", so Felbermayr. Dazu komme die hohe Energieunsicherheit. "Die Politik spricht von Abschaltungen in unerwünschten Sektoren, gleichzeitig ist aber nicht klar, woher die Energie kommen soll." Auch protektionistische Tendenzen, wie die Androhung des einstigen US-Präsidenten Donald Trump, Importzölle auf Automobilprodukte einzuheben, treffen die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft immer wieder stark. In benachbarten Ländern wie Österreich oder der Schweiz sei die Lage für die Industrie noch nicht so dramatisch. "Wir müssen uns aber fragen, ob wir immun sind gegen eine ähnliche Entwicklung. Und ich fürchte, das sind wir nicht. Wir sollten aus der Situation in Deutschland lernen", so der Wifo-Chef.

Trends ernst nehmen
Langfristige Tendenzen wie die Demografie oder die Verlangsamung des Welthandels ("Slowbalisation") oder der Trend zum "Friendshoring", also die Verlagerung der Zulieferbeziehungen zu befreundeten Staaten, sollte man ernst nehmen. "Die Entkoppelung von China passiert", so Felbermayr. Man müsse sich daher um alternative Wirtschaftsbeziehungen bemühen, um den Wohlstand nicht zu gefährden.

"Österreichs Widerstand gegen Mercosur kann ich nicht verstehen", sagte der Wifo-Chef in diesem Zusammenhang. Das geplante Handelsabkommen der EU mit südamerikanischen Staaten würde nicht nur einen Zugang zu wichtigen Rohstoffen eröffnen, sondern auch zu einem Markt an "jungen Leuten, die uns kulturell näher sind als andere Regionen". Außerdem: Große Nationen wie Indien oder China hätten sicher kein Interesse, mit "EU-Bürokraten" ein ähnliches Abkommen auszuverhandeln. Es sei daher wichtig, dass Europa bei anderen, kleineren Wachstumsmärkten anknüpft. In Asien würde dazu etwa das aufstrebende Indonesien zählen.

Inflation bleibt
Österreichs Bürger müssen sich indes weiter auf ein Abschmelzen ihrer liquiden Vermögenswerte einstellen. Dass die Inflation im Februar mit elf Prozent weiter so hoch war, habe auch die Wifo-Forscher überrascht. Gleichzeitig gehe man davon aus, dass aufgrund von Basiseffekten bald ein Rückgang zu sehen ist. Allerdings bleibt der inflatorische Druck gegeben. Felbermayr verwies etwa auf die Koppelung von Preisanpassungen an die Teuerung. Indizierungen seien "der beste Weg, um die Inflation hoch zu halten", so Felbermayr. Da könne man mit Sorge auf die KV-Verhandlungen blicken.

Es zeige sich zunehmend, dass ein großer Teil der Inflation nicht importiert ist: "Man hat feststellen können, dass Greedflation ebenfalls eine Rolle spielt. Wir sehen eine deutliche Gewinninflation. Unternehmen konnten ihre Margen ausweiten", so Felbermayr. Auch der Staat habe durch die Corona-Maßnahmen mit rund einem bis 1,5 Prozent zur Teuerung beigetragen. Die Abschätzung, was nötig ist, sei schwierig: Denn ohne die Maßnahmen hätte man ebenfalls unvertretbar gravierende Auswirkungen provoziert. Es sei eine Zeit, in der sich die Entscheider besonders genau mit der Statistik und der Abwägung der Zahlen auseinandersetzen müssten. (eml)