Christian Kern im Interview: "Wir brauchen mehr Kühnheit"
Europa muss seine Wirtschaft umbauen, um global nicht an Terrain zu verlieren, warnt der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern im Interview. Kern, der als Manager in die Privatwirtschaft zurückgekehrt ist, spricht im März am FONDS professionell KONGRESS.
Politische Beobachter hatten in den vergangenen Monaten guten Grund, hellhörig zu sein. Der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern brachte sich im Vorjahr äußerst aktiv in den politischen Diskurs ein – trat als Energieberater der SPÖ-Spitze auf, rügte die Migrationspolitik oder postete vielbeachtete Social-Media-Beiträge zum Präsidentschaftswahlkampf. Vorbereitungen zu einem Wiedereinstieg in die Politik? Nein, sagt Kern im Interview mit FONDS professionell. Man müsse nicht unbedingt zweimal durch dieselbe Tür gehen. Er habe ein rein inhaltliches Anliegen: "Die Sicherung des Standorts Österreich und des Wohlstands, der keine Selbstverständlichkeit mehr ist", so Kern.
Er kritisiert die zögerliche und unkoordinierte Haltung der europäischen Nationalstaaten und der EU bei Zukunftsinvestitionen. "Unsere Entscheidungsmechanismen sind unfassbar langsam. Die USA haben 2022 ihren Inflation Reduction Act bekannt gegeben (milliardenschwere Subventionen für die US-Wirtschaft, Anm. d. Red.), während wir noch darüber diskutieren, ob die das überhaupt dürfen", so der ehemalige Bahnmanager, der nach seiner Zeit als Bundeskanzler wieder in den Sektor zurückgekehrt ist.
"Mit dem Taschenmesser zu einem Feuerwaffengefecht"
Wie langwierige Entscheidungsfindungen den Standort hemmen, kann Kern auch aus seiner aktuellen Position als Geschäftsführer des Schienenfahrzeug-Leasingunternehmens ELL berichten: "Wenn wir in Europa eine Lokomotive kaufen, brauchen wir für jedes Land eine Zulassung, in manchen Ländern dauert das Jahre. In nationalen Inseln versickert unglaublich viel Geld." Ohne zukunftsfähiges Konzept drohe die Abwanderung von Zukunftsindustrien. Europa setze dadurch auch seine Versorgungssicherheit aufs Spiel. "Wir sind mitten in einem globalen Wirtschaftskrieg. Da können wir nicht mit dem Taschenmesser zu einem Feuerwaffengefecht gehen", so Kern.
Unter anderem müsse Europa es schaffen, die Wirtschaft von der Güterproduktion weiter in Richtung Serviceindustrien auszurichten. So kämen etwa die europäischen Produzenten allein aufgrund der hohen Energiepreise, die drei- bis viermal über jenen der USA liegen, unter Druck. In Österreich macht der produzierende Sektor 28 Prozent des BIP aus, in den USA nur 18 Prozent. Indes ist das US-Pro-Kopf-Einkommen um 10.000 Dollar höher. "Das zeigt, man kann Wohlstand sichern, wenn man die Wertschöpfungstiefe erhöht und digitale Services ausbaut", so Kern.
"Qualifizierte Migration"
Es seien alle Bereiche gefordert, von der Bildung über Infrastruktur bis zu Steuer- und Migrationspolitik. Es sei unverständlich, dass es angesichts der Alterung der Bevölkerung keine Einwanderungspolitik gibt, die einerseits gezielt nach Potenzialen sucht und andererseits eine bessere Integration von Eingewanderten fordert. "Eines wird oft vergessen: In Österreich sind die Lohnnebenkosten die wichtigste Einnahmequelle im Budget und damit für die Finanzierung von Spitälern, Pensionen oder Bildung. Wenn wir die Arbeitskräftebasis nicht erhalten, gerät unser System ins Rutschen. Kein Mensch kann unkontrollierte Zuwanderung wollen. Aber wir brauchen qualifizierte Arbeitsmigration", so der ehemalige Kanzler. Wer sich im globalen Wettbewerb um die besten Leute mit nationalistischen Erwägungen aufhalte, mache einen Fehler, so Kern.
"Mehr Radikalität"
Er fordert auch bei Klimatechnologien ein Umdenken. "Eine interessante Studie besagt, dass eine komplette globale Umstellung auf erneuerbare Energiequellen mit den vorhandenen Technologien möglich ist. Die gewaltigen Kosten würden innerhalb von sieben Jahren kompensiert, weil dann die kurz- und langfristigen Kosten der fossilen Energienutzung wegfallen. Wir brauchen mehr Kühnheit, mehr Radikalität. Die Dinge sind nicht so unmöglich, wie oft behauptet wird", so Kern.
Der Wandel werde am Ende auch von der Bevölkerung getragen, zeigte sich Kern optimistisch. "In einer Demokratie entscheidet am Ende das Volk. Ich glaube, in den nächsten Jahren wird der explodierende Populismus wieder abgelöst von einer 'No-Bullshit-Politik'. Die Leute durchschauen langsam, dass man die Probleme unserer Zeit mit Sprüchen nicht lösen kann." (eml)
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Kommentare
Kern - Privatwirtschaft
AntwortenWieso ist Hr Kern in die Privatwirtschaft "zurückgekehrt"? Meines Wissens war er vor seiner Kanzlerschaft bei der ÖBB die mehr Subventionen bekommt als sie Umsatz macht. Ob Spitzenpositionen bei der ÖBB "politisch angehaucht sind" will ich dabei gar nicht vermuten. Ich würde aber die ÖBB nicht eben als Musterbeispiel für Privatwirtschaft sehen.
hkoch@inode.at am 09.02.23 um 09:13