FONDS professionell Österreich, Ausgabe 2/2020

Leiter Marketing und Produkte des Schweizer Genossenschaftsinstituts Wir Bank. „Das Bilden von ‚Personas‘ hilft nicht nur in der Segmentierung, sondern auch in der daraus folgenden Kunden- ansprache und der Entwicklung von ziel- gruppengerichteten Produkten und Dienst- leistungen.“ Gisler äußert jedoch auch leichte Kritik an der Yougov-Kundentypologie: „Man muss aber auch sagen, dass im Zeitalter des ‚Segment of One‘ eine Reduktion auf sechs Segmente immer noch sehr verall- gemeinernd wirkt.“ Beim „Segment of One“-Ansatz, der aus dem Marketing kommt, wird jeder Kunde als einzelnes Segment angesehen und dementsprechend individuell angesprochen. „Standardisie- rung in der Segmentierung führt fast zwangsweise zu einer Standardisierung in der Beratung. Das Ziel muss deshalb sein, jeden Kunden individuell ansprechen und betreuen zu können“, so Gisler. Wobei man die Differenzierung auch übertreiben kann. Gislers Bank, die sich auf die Betreuung von kleinen und mittel- ständischen Unternehmen und Privatkunden spezialisiert hat und Kredite sowie Hypo- thekardarlehen anbietet, machte damit ihre eigenen Erfahrungen. „In der Kundenbetreu- ung arbeiteten wir bis vor Kurzem mit 37 Segmenten. Wir mussten aber merken, dass dies für die Kundenberater nicht verständlich war. Zudem konnten wir auch nicht 37 ver- schiedene Maßnahmen definieren“, sagt Gisler. „Das führte dazu, dass wir die vielen Segmente schlussendlich wieder einheitlich betreuten.“ Infolgedessen reduzierte die krea- tive Genossenschaftsbank die Zahl der Seg- mente in diesem Jahr stark. Jetzt gibt es vier Kategorien, die man anhand von Kundenwert und Potenzial bildet. Zudem gibt es das Seg- ment „Neukunden“, da diese Klienten inten- siver betreut werden. Herausforderung Anhand dieser Erfahrung zeigt sich das größte Problem, das allen Segmentierun- gen, die zu sehr ins Detail gehen, inne- wohnt. „Will man die Kunden so indivi- duell ansprechen, braucht es ein ausgeklü- geltes und kostenintensives Marketing und eine leistungsfähige Softwarelösung. Man darf sich fragen, ob sich die Investi- tion in solche Marketingpower und Infor- matiklösungen wirklich auszahlt“, so der Schweizer. Bei der Segmentierung für die Kundenbetreuung gilt es seiner Meinung nach auch zu unterscheiden, bei welchen Klienten man welchen Betreuungsaufwand investieren möchte. „Je wertvoller ein Kunde, desto in- tensiver und persönlicher wird die Beratung sein, die man als Bank bieten möchte. Hierbei wird aber leider das Bedürfnis der Kunden völlig vergessen“, erklärt Gisler. Im Zweifel will der Kunde diese intensive Ansprache gar nicht – und die Beratung erreicht das Gegenteil. Im Marketingbereich arbeitet die Ge- nossenschaftsbank deshalb mit Segmen- tierungen, die sich am Verhalten und der Produktnutzung orientieren. Die Bank bil- det beispielsweise Personas auf der Basis von Interessentendaten, die über Social- Media-Kanäle gewonnen wurden, und nutzt dieses Wissen, um neue Kunden ge- zielt anzusprechen. Die Filiale lebt Trotz Zunahme der digitalaffinen Kun- dentypen geben die Meinungsforscher von Yougov die traditionelle Bankfiliale noch nicht auf. So freut sich selbst die Gruppe der digitalen Enthusiasten von Zeit zu Zeit darüber, eine persönliche Anlaufstelle zu haben. Beide Welten können sich also gut ergänzen. Jedoch scheint sich das Zusammenspiel von On- und Offline-Geschäft zu einer der größten Herausforderungen für die Ban- ken im Rahmen der Digitalisierung zu entwickeln. „Gerade die sehr digitalaffinen Zielgruppen müssen in ihrer digitalen Lebens- welt angesprochen und abgeholt werden“, erklärt Runge. „Sie fordern neuere automati- sierte Services und beispielsweise einen Rund-um-die-Uhr-Support via Chatbot. All dies muss im Zweifelsfall mit dem Filial- geschäft vereinbar sein, das weiterhin Sicher- heit und Vertrauen herstellen soll.“ Beschleunigte Digitalisierung Trotz Daseinsberechtigung für die gute alte Geschäftsstelle sieht der Berater die Digitali- sierung weiter voranschreiten, insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie: „Banken müssen nun sehr kurzfristige Verhal- tensänderungen durch Covid-19 berücksich- tigen“, sagt Runge. Er rechnet nicht nur mit einer höheren Nutzung des Online-Bankings: „Die teilweise zwanghafte Nutzung von kon- taktlosem Zahlen in manchen Geschäften sorgt für eine beschleunigte Digitalisie- rung bestimmter Segmente“, so der Mei- nungsforscher. Egal welche Segmentie- rung eine Bank wählt, eine individuelle Beratung sollte immer möglich sein. „Schlussendlich berät ja immer noch ein Berater“, betont Marketingexperte Gisler. „Und der sollte sich – unabhängig von der Segmentierung – auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden einstellen.“ MARCUS HIPPLER | FP » In der Kundenbetreuung arbeiteten wir bis vor Kurzem mit 37 Segmenten. Dies war für die Kundenberater jedoch nicht verständlich. « Claudio Gisler, Wir Bank Claudio Gisler, Wir Bank: „Das Ziel muss sein, jeden Kunden individuell ansprechen und betreuen zu können.“ Personas Mit Personas (lateinisch Maske) sind Nutzermodelle gemeint, die Personen einer Zielgruppe in ihren Merkmalen charakterisieren. Ihre Beschreibung kann beispielsweise einem Entwicklerteam helfen, sich in die Lage der potenziellen Nutzer zu versetzen und diese Perspektive während des gesamten Designprozesses bei- zubehalten. Personas werden mit einem Namen, einem Gesicht, einer Funktion, einem Werdegang und einem Privatleben versehen. Personas verfügen über Ziele und Verhaltensweisen, haben Vor- lieben und Erwartungen. Quelle: „Onlinemarketing Praxis“ www.fondsprofessionell.at | 2/2020 239 Foto: © Wir Bank

RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=