FONDS professionell Österreich, Ausgabe 2/2020

Foto: © Günter Menzl D ie Coronakrise stellt die Welt vor gewaltige Aufgaben und macht den Ausnahme- zum Normal- zustand. Ausgangsbeschränkungen und -sperren verändern unser gesellschaft- liches Zusammenleben. Zudem sind die Langzeitfolgen der Krise derzeit kaum abzuschätzen. Einen Versuch wagt Bernd Marin, einer der führenden Wirtschafts- und Sozialexperten des Landes, trotzdem. Im Interview erklärt der Gründer und Direktor des Europäischen Büros für Politikberatung und Sozialforschung in Wien, welche Auswirkungen die Corona- Pandemie auf die Gesellschaft hat und wie angesichts einer Rekordarbeitslosig- keit die Zukunft des heimischen Pensions- systems einzuschätzen ist. Herr Prof. Marin, Sie haben sich im Lauf Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auch mit AIDS und Pandemiemanage- ment beschäftigt. Etliche Länder, die EU, die WHO und andere Institutionen haben sich mit Pandemiesimulationen und Studien, wie im Ernstfall mit solch einer Situation umzugehen ist, beschäf- tigt. Warum wirkt es so, als ob uns die Krise nun trotzdem unvorbereitet getrof- fen hat? Prof. Bernd Marin: HIV und AIDS-Manage- ment waren tatsächlich der globale gesund- heitspolitische Schock der 1980er- und 1990er- Jahre. Wir haben das für sechs euro- päische Länder untersucht. Die Welt war völ- lig unvorbereitet, hat aber – sehr schmerzhaft, mit allzu großen Opfern – langsam damit um- zugehen gelernt. Und doch gibt es nach zig Millionen Toten und seuchenbedingten tiefen gesellschaftlichen Umwälzungen bisher nur Safer Sex und mehr Hygiene beim verbotenen Drogenspritzen als Gegenmittel. Nach Jahr- zehnten milliardenschwerer Forschung haben wir zwar lindernde Medikamente, aber bis heute 1,8 Millionen AIDS-Tote jährlich, keine Heilung und keinen Impfschutz gegen HIV. Einen solchen Impfschutz erhoffen wir jetzt sehr bald gegen SARS-CoV-2, obwohl es seit 17 Jahren nicht gelang, monoklonale Anti- körper oder eine Impfung gegen irgendeines der vielen Coronaviren zu entwickeln. Daher bleiben vorerst weiterhin nur – wie 1918 bei der Spanischen Grippe – Händewaschen und körperlich Abstand halten als einzig nachweis- bar wirksame Schutzmaßnahmen. Gab es denn keine Vorkehrungen eines Pandemiemanagements gegen ein aggres- sives und hochinfektiöses Virus? Vorbereitungen gegen eine neue SARS-Coro- na-Pandemie gab es seit 2003 nur in Asien, im deutschen Bundestag seit 2013. Mein Ko- autor zumAIDS-Management-Buch 1997 hat erst jüngst – geradezu prophetisch – den Ausbruch eines NewAsian Corona Virus (NAC) simuliert. Im März 2019 sagte der Epidemiologe Peng Zhou aus Wuhan mit Sicherheit eine sehr baldige neue Corona- Pandemie mit Hotspot in China voraus, bloß der genaue Ort und die Zeit seien noch unbestimmbar. Nur neun Monate später traf das Ereignis wie prognostiziert ein. Und doch hat uns die Covid-19-Er- krankung in der Politik im Gegensatz zur Wissenschaft fast unvorbereitet getroffen. Zwischen der Alarmmeldung vom 31. 12.  2019 aus Wuhan an die WHO und den ersten Maßnahmen in Europa Ende Fe- bruar bis Mitte März ging kostbarste Zeit verloren – unfassbare acht bis zehn Wo- chen fast ohne Vorkehrungen. Sie hätten uns allen den Lockdown ersparen können. Während etwa Taiwan noch am selben Tag seine 124 Präventivmaßnahmen erfolgreich in Gang setzte und die Seuche ohne jeden Shut- down gut in Schach hielt, war in Europa und den USA ein Trauerspiel an Überforderung und Inkompetenz zu beobachten: erst Winter- schlaf und Leugnung, dann Schockstarre, die innerhalb weniger Tage in Pandemie-Panik und teils konfuse, teils aufgeklärte Betrieb- samkeit kippte. Und wie hat Österreich aus Ihrer Sicht diesbezüglich im Vergleich agiert? Zweifellos hat Österreich rascher und energi- scher reagiert als europäische Nachbarn. Aus ostasiatischer Sicht musste es freilich trotzdem wie aus dem frühen vorigen Jahrhundert wir- ken. Ausgerechnet in Kakanien, wo jeder Kleinbetrieb oder Landgasthof von Arbeitsin- spektoren, Marktämtern und Brandschutzbe- auftragten zum eigenen „Schutz“ bürokratisch drangsaliert wird, gab es noch im März 2020 keinen nationalen Pandemieplan, unzurei- chend Schutzkleidung für Gesundheits- und Pflegepersonal, kaum relevante öffentlich zu- gängliche Daten und keine einzige wissen- schaftliche Studie mit Ausnahme einiger Mo- dellrechnungen als Entscheidungsgrundlage. Der bekannte Sozialforscher Prof. Dr. Bernd Marin, Gründer und Direktor des Europäischen Büros für Politikberatung und Sozialforschung in Wien, erklärt im Interview, wie er die Auswir- kungen der Coronakrise sieht und was das für das österreichische Pensionssystem bedeutet. „Das Regierungsprogramm ist » Zusätzlich zur Sanierung der ersten Säule ist betriebliche Alterssicherung, wie ich nicht müde werde zu betonen, das Gebot der Stunde. « Prof. Bernd Marin, Europäisches Büro für Politikberatung und Sozialforschung Prof. Dr. Bernd Marin Professor Dr. Bernd Marin ist Wirtschafts- und Sozialexperte und gilt als bekannter Kritiker des hei- mischen Pensionssystems. Die Wirkungsstätten des Wiener Universitätsprofessors reichen dabei von Warschau bis Florenz und von Zürich bis Innsbruck. Gastprofessuren führten ihn dabei um die ganze Welt. Von 2015 bis 2016 war er Direktor (Rektor) der US-amerikanischen Webster Vienna Private University. 2016 gründete er das Europäische Büro für Politikberatung und Sozialforschung in Wien. fonds & versicherung I prof. bernd marin 154 www.fondsprofessionell.at | 2/2020

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