FONDS professionell Österreich, Ausgabe 1/2020

abgehalten, den Versicherten mehr zuzu- sprechen – nämlich oft sämtliche Prämien plus vier Prozent Zinsen. „Die Gerichte könnten also mit unionsrechtskonformer Interpretation den Vorgaben des EuGH schon jetzt folgen“, erklärt die Sprecherin. Wie eine mögliche Gesetzesnovelle aus- sieht, hängt daher auch davon ab, wie die EuGH-Ansichten in den nächsten Wo- chen umgesetzt werden. Bisher habe die Versicherungswirtschaft noch keinen ex- pliziten „Reparatur“-Wunsch geäußert. Ob es tatsächlich richtig wäre, auf das EuGH-Urteil nicht legistisch zu reagieren, ist fraglich. Eigentlich müssten die Versi- cherer daran interessiert sein, dass das Gesetz „wasserdicht“ wird. Eine ständige offene Flanke verhindert, dass endlich Ruhe einkehrt. Immerhin haben die Unternehmen genau dafür bereits im Jahr 2017 viel Geld ausgegeben. Sie entschädigten tausende Klien- ten des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) mit einem zweistelligen Millionen- betrag und zeigten damit hohe Bereitschaft, die Sache zu befrieden, obwohl etliche dieser Kunden vor Gericht wohl nicht Recht bekommen hätten, wie ein Versi- cherer damals meinte. Neue OGH-Urteile Tatsächlich haben die Richter in den vergangenen Jahren immer sehr unter- schiedlich geurteilt. Erst im Dezember 2019 stärkte etwa der OGH den Asse- kuranzen den Rücken. Eine Lebensver- sicherungskundin wollte aus einer alten Polizze zurücktreten, weil ihr der Zeit- punkt des Vertragsabschlusses nicht extra mitgeteilt worden war. Sie habe daher den Beginn der Rücktrittsfrist nicht wissen kön- nen. Der OGH appellierte an den Hausverstand: Einem Versiche- rungsnehmer muss klar sein, dass der Vertrag spätestens dann zu- stande gekommen ist, wenn er die Polizze zugeschickt bekommt. Weitere solche Urteile sind in den kommenden Wochen zu erwarten. Denn der EuGH hat in seinem viel beachteten Spruch vom Dezember nicht nur zum bereits erwähnten Rückkaufswert, sondern auch zu etlichen weiteren Fragen geurteilt. Mehrere Gerichts- verfahren waren in Erwartung die- ser Antworten angehalten worden. Hohe Resonanz gab es etwa auf die EuGH- Anmerkungen zur Schriftform. Viele Versi- cherer verlangten früher einen schriftlichen Rücktritt, obwohl das Gesetz damals keine besondere Form vorsah. Verbraucher nahmen das zum Anlass, um nachträglich aus einer Polizze rauszukommen – entweder weil diese schlecht performte oder weil man das Geld brauchte und eine Kündigung we- gen des Kostenabzugs teuer kommt. Der EuGH gibt den Versicherern recht: Nicht alles, was unrichtig ist, muss auch gleich grob fehlerhaft sein, entschied das Ge- richt. Solange die Schriftform jemanden nicht am Rücktritt hindert, kann man nur innerhalb der anfänglichen Frist zurück- treten, nicht aber Jahre später. Zur Erleich- terung der Versicherer schloss sich der OGH dieser Auffassung im Februar an (7 Ob 4/20v). Karin Zippusch-Knoll und Georg Hoffmann, Versicherungsanwälte der Kanzlei Jarolim Partner, erläutern die Argumentation von EuGH und OGH:  Die Schriftform sei kein Nachteil, sie diene vielmehr dem Schutz des Kunden, weil dieser „die Beweispflicht für Inhalt und Rechtzeitigkeit der Rücktrittserklärung“ trägt. Differenziertes Urteil Insgesamt lieferte der EuGH ein sehr diffe- renziertes Urteil, über das sich keine Seite beklagen kann. So stellt das Gericht klar:  Gab es überhaupt keine oder eine irre- führende Rücktrittsinformationen, ist der Rücktritt selbst dann unbegrenzt mög- lich, wenn der Kunde anderweitig über sein Recht erfahren hat. Deutlich verur- teilte das Gericht dafür Spekulations- motive: Gerichte dürften bei Rücktritts- fragen nur die Kundenbedürfnisse bei Vertragsbeginn beurteilen, spätere Vortei- le zählen nicht: Bei fondsgebundenen Lebenspolizzen geht der Kunde ja be- wusst ein Kapitalmarktrisiko ein und sollte sich nicht später entschei- den können, ob er doch lieber seine Prämien zurück hätte. Sehr spannend wird nun, wie das EuGH-Urteil jene 16 Sam- melklagen beeinflusst, die der VKI im Herbst 2019 für rund 850 Personen eingebracht hat. Drei Versicherer, die sich 2017 nicht dem Branchenvergleich ange- schlossen haben, werden mit rund 14 Millionen Euro beklagt. Immerhin: In Zukunft sollten derartige Probleme nicht mehr auftreten. Der VersVG-Novelle 2018 wurde eine „Musterbeleh- rung“ angehängt. Anbieter, die sich daran halten, sind auf der sicheren Seite. EDITH HUMENBERGER-LACKNER | FP Foto: ©Jarolim Partner Rechtsanwälte Anwälte Karin Zippusch-Knoll und Georg Hoffmann: Ein schriftlicher Rücktritt hat vor allem Vorteile für Kunden. EugH-Urteil vom 19. 12. 2019 § 176 Österreichisches VersVG 2018 § 176. (1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versi- cherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Ver- sicherer den (…) Rückkaufswert zu erstatten . (Anm.: (1a)) Sind nicht alle Voraussetzungen für den Beginn der Rücktrittsfrist gemäß § 5c Abs. 2 erfüllt, so gebührt dem Versiche- rungsnehmer bei einem Rücktritt von einer Kapitalversicherung • innerhalb eines Jahres nach Vertragsabschluss die für das erste Jahr gezahlten Prämien • ab dem zweiten bis zumAblauf des fünften Jahres nach Vertrags- abschluss der Rückkaufswert ohne Berücksichtigung der tarif- lichenAbschlusskosten und des Abzugs gemäß § 176Abs. 4. (…) Das Gesetz dürfte dem EU-Recht widersprechen. Allerdings haben die Gerichte darauf oft gar nicht Rücksicht genommen. Sie haben Kunden schon bisher teils mehr als nur den Rückkaufs- wert zugestanden. Das BMJ verweist auch darauf, dass der neue § 176 Abs. 1a VersVG nur den Rücktritt bis zum fünften Jahr nach Vertragsschluss regelt. Dass danach nur der Rückkaufs- wert zu ersetzten ist, könnte sich zwar aus Abs. 1 ergeben, sei aber nicht explizit angeordnet. 111: „Somit ist (…) zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versiche- rer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rück- kaufswert zu erstatten hat.“ 196 www.fondsprofessionell.at | 1/2020 fonds & versicherung I rücktrittsrecht

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